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Hamlet Sein

Sie bringen sich bloß um

Von Gernot Plass

Sehr frei nach W. Shakespeare

Vorstellungsdauer
ca. 165 Minuten, inkl. einer Pause

Uraufführung

Premiere: Mi. 14. März 2012, 20.00

Über Hamlet Sein

410 Jahre Geistesgeschichte sind nicht spurlos an Hamlet, einem der größten Philosophen der Theatergeschichte, vorübergegangen! Das TAG denkt in seiner neuesten Shakespeare-Überschreibung die Jahrhunderte mit und schickt den berühmten dänischen Prinzen und seine BühnenkollegInnen vor diesem Hintergrund neu und heutig in den gnadenlosen Racheplot. Ein Shakespeare im Update. Ein Tarantino im Versmaß.

Schon seine aufsehenerregenden Produktionen RICHARD 2 und DER PROZESS wurden von Gernot Plass’ großer Lust an schnell getakteten Dialogen geprägt, und auch HAMLET SEIN, nominiert für den NESTROY 2012, ist ein rhythmisch exakt durchkomponiertes Sprachabenteuer. Ein Abend, an dem sich alles um das ewig Allzumenschliche dreht. Und am Ende? Da bringen sie sich doch wieder alle um.

Team

Es spielen
Text
Gernot Plass
Regie
Gernot Plass
Ausstattung
Alexandra Burgstaller
Dramaturgie
Isabelle Uhl
Licht
Hans Egger
Regieassistenz
Renate Vavera
Regiehospitanz
Lilli Fischer

Foto-Galerie

Über die Produktion

Hamlet: Dieses durch die Tradition ganzer Interpreten-Heere ins Übergroße gesteigerte Gründungsdokument moderner Subjektivität. Dieser Theatertext schlechthin, mit seinen über 4000 Versen. Dieses allerorten bekannte, unbekannte Monster. Gebirge. Shakespeares meistgespieltes Stück.

Hamlet überschreiben.

Zerlegt man diesen Korpus, räumt ihn ab und kleidet ihn auf der Basis seiner „Maschine“ neu, überschreibt man diesen Text, so markiert man gleichzeitig und ziemlich genau die Grenze jenes Bereiches, den man als kleines Theater im Vergleich zu großen Flaggschiffen der Theaterkunst heutzutage noch hat: der Spielraum für Frechheit. Aus der exzentrischen Position der Vorstadtbühne, im Schatten der literarischen Forschung, außer Sichtweite der Kohorten vergleichender Germanisten, Anglizisten und Theaterwissenschaftler, gehen wir ans freche Werk und versuchen einen (im cynischen Sinne) lustvollen Hundebiss von unten in das Schienbein des Heiligen. Wer redet da von Angriff, Unterhöhlung und Zerstörung? – Nein, wir konstatieren bloß: Zum einen unser schlampiges Verhältnis zu den alten Texten, die solche Überschriften wie „die Tragödie des Dänenprinzen Hamlet“ in ihrem Titelblatt führen, und zum anderen unseren Spaß, damit zu spielen.

Ist dieser Zugang neu?

Nein. Shakespeare selbst ging ähnlich vor, indem er einen „Ur-Hamlet“ neu fasste und ihn mit den humanistischen Denkrevolutionen seiner Zeit im Rucksack über die Bretter schickte. Neu ist das im Grunde nur für diejenigen, die immer noch durch das jahrhunderte-alte Genie-Training des Klassizismus´ von der Konzeption des „schöpferischen Autors“ ausgehen und die Methoden Shakespeares, Molières, Nestroys und so vieler anderer, die ähnlich arbeiteten, ausblenden und ihre Ergebnisse vergöttern.

Dieser Zugang ist also nicht martialisch (man zerstört ja nicht) noch andächtig (man betet nicht an) und politisch schon gar nicht, sondern vielmehr pragmatisch-technisch, ein wenig verschmitzt, blinzelnd, dennoch keineswegs weniger radikal. Warum? Weil er auf der Ebene des Quelltextes ansetzt und nicht – und das ist entscheidend – auf der Ebene der Interpretation. Trotzdem ist sein Leitgedanke der der Konstruktivität und der Rettung. Getragen von der unbeirrbaren Hoffnung auf ein „Überleben“ des Patienten.

Recht gehört: All diese großen Theatertexte sind wie so vieles Hergebrachte aus der metaphysischen Epoche des alten Europa akut vom unbemerkten Dahinsterben bedroht. Unbemerkt deshalb, weil sie allenthalben von diversen Plastinierern in gut dotierten Körperwelten, ihrer Schutzhaut beraubt, einem staunenden Museumspublikum präsentiert werden. Diese Texte aber sterben, weil sie uns, den Zeitgenossen eines postmetaphysischen Zeitalters, ihres ideologischen Hintergrundes wegen immer weniger sagen. Neue Generationen medientrainierter, hedonistisch konditionierter, spätkapitalistischer Konsumenten verlieren durch radikal neue Lebenswirklichkeiten den Kontakt zu und das Verstehen von diesen Texten. Eine sprachhistorische, philologische Beschäftigung bleibt engen akademischen Zirkeln vorbehalten. Ihre Wiederbelebung auf der Bühne aber funktioniert nicht mehr so recht. Man mag das bedauern, ignorieren oder weiterkämpfen, man wird die Grundproblematik auf diesem Weg nicht lösen können.

Der Rückweg ist versperrt, die Koketterie ist ausgereizt. Jetzt kommt also der eigentliche Spaß: Auf dem Programm steht die komplette Neuschreibung. Aufschneidung des Textkörpers, Explifikation und Aufdröselung der semantischen Einheiten, Entfernung des Nichtbrauchbaren und Kopieren von Nützlichem in einen völlig neuen Sprachmantel. Die Methode ließe sich beschreiben als „produktive Zerstörung metaphysisch aufgeladener Texte und Übertragung der Struktur, unter Berücksichtigung gewisser klassizistischer Formen (Blankvers) in eine moderne Dialogform“. Das Problem der Musealisierung und des Anachronismus wird damit auf höherer Ebene aufgelöst, da von Anfang an in Kategorien wie historischer Plausibilität oder gar Treue zum Werk nicht gedacht wurde. Durch diesen Griff der Kunst auf das Material aber ist es möglich, sowohl gesellschaftliche Entwicklungen oder wie in diesem Falle philosophische Fortschritte für das Ergebnis produktiv zu machen.

Im vorliegenden Text „Hamlet Sein“ wird in den großen Monologen Folgendes nicht ignoriert, wenn auch nicht restlos reflektiert:

Erstens: die philosophische Wende, die im frühen 20. Jahrhundert aufgrund des Erkenntnisfortschritts und des traumatischen Eindrucks des großen Krieges vor sich ging und die in dem kleinen süddeutschen Städtchen Freiburg mit der Antrittsvorlesung des Dozenten Martin Heidegger „Was ist Metaphysik?“ ansetzte und eine Denkrichtung eröffnete, die unter dem Namen „Existenzialismus“ in die Philosophiegeschichte einging. In diese Vorlesungen verirrte sich also ein aristokratischer Intellektueller aus nördlichem Ausland und war vom ersten Augenblick gefesselt, begeistert und nachgerade erschüttert. Dieser junge Prinz wäre sicherlich auf eine große akademische Karriere abonniert gewesen, hätten nicht plötzlich eintretende tragische Ereignisse in seinem Heimatland ihn aus der Universitätsstadt abberufen… aber das ist eine andere Geschichte. Unser Hamlet war niemals in Wittenberg.

Zweitens: das Theater des Absurden – eine weitere Frucht der menschheitserschütternden Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Theaterform hatte Shakespeare immer im festen Blick und übernahm seine Clownfiguren, um sie zu den Protagonisten einer zerstörten und gotttoten Bühnen-Nachwelt zu nobilitieren. Den Gipfel seiner Shakespeare-Exegese erreichte das absurde Theater wohl in Tom Stoppards „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“. Eines der intelligentesten und besten Stücke dieser Epoche: Eine Konzeption, die sich auf stupende Art und Weise die völlige Drehung der Perspektive auf das Stück „Hamlet“ zu eigenem Nutzen macht und zwei farblose Nebenfiguren der Vorlage ins Zentrum rückt.

Die Herausforderung ist nun, diesen Theatertext neben der angedeuteten Denkrevolution wieder in „Hamlet Sein“ zu re-inkorporieren und zwar nach der gleichen Art, wie es Tom Stoppard tat, um – die Bühne wiederum um 90 Grad weitergedreht – so wieder bei der Hauptfigur Hamlet zu landen, aber um zwei dementsprechend aufgeladene Figuren bereichert. Dass natürlich auch alle anderen Nebenfiguren von den kleinen Schlosswächtern über die bemitleidenswerte Ophelia bis hin zum finsteren Claudius einen kräftigen Schluck dieser Medizin verabreicht bekommen haben, versteht sich.

Und drittens: ein launiges, logisch vielleicht nicht ganz haltbares Konzept von der Unmöglichkeit des Nichtseins, der nachmetaphysischen Möglichkeit ewigen Seins und der ewigen Wiederkehr. Was könnte das sein?

„Sein oder Nichtsein …“ Der durch „zu-Tode-zitieren“ längst schon auf die unverstandene Ebene des Dekorums zurückgedrängte, dramaturgisch völlig nutzlose, aber umso berühmtere Monolog des III. Aktes, wird in unserem Falle zum Vehikel für eine revolutionäre Denkübung, die das Nichtsein ausschaltet. Das macht Spaß. Und noch mehr Spaß macht es, eine Bühnenfigur, nachdem sie sich dieser Meditation hingegeben hat, Nietzsches Gedanken zur „ewigen Wiederkehr“ referieren zu lassen. Welche Bühnenfigur wäre für solch ein Referat da wohl geeigneter als der Hamlet des III. Aktes? Also eine Existenz, die eo ipso immer wiederkehrt, am ewig gleichen Knotenpunkt ihrer Verhängnisse und Konflikte wie Hamlet jetzt seit 411 Jahren, und der man ohnehin seit Jahrhunderten die Fähigkeit unterstellt, ihr eigenes Stück zu transzendieren. Diese Figur tiefer denken und ihr eigenes Sein durchschauen zu lassen macht einfach Spaß. Sein neues Denken wird zum Vollzugshindernis für den bekannten Auftrag des Vatergeistes und nicht, wie bei Shakespeare, Hamlets schräger Katholizismus.

Eine Figur, die so weit voranschreitet, die ein intellektuelles Denk-Sensorium entwickelt, das „durchbricht“, dieser „Denker auf der Bühne“ ist nun hineingeworfen in einen kruden Racheplot. In einen dänischen Western. Welch himmelschreiender Kontrast.

Hamlet Sein ist also nicht nur Modern-Sein oder „Deutschland-Sein“ oder „Europa-Sein“ oder was auch immer, sondern auch Metapher-Sein für das Sein selbst, das sich denkt.

Daher: „Hamlet Sein“.

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