Jens Claßen
Jens Claßen
Jens Claßen
Jens Claßen
Jens Claßen

Saison 23/24

Zur Saison

Als hätte das Theater genügend Gewicht und Nachdruck noch mitzureden! Als könnte ein künstlicher Vorgang auf den Bühnenbrettern die Welt noch aus den Angeln heben! Als würde das Ohr der Macht noch argwöhnisch auf den Trommelfellen der Bühnen liegen, den Stimmen der Autoren*innen und der Schauspieler*innen noch Einfluss zutrauen in der lärmendenden Massenkultur, in der späten, welkenden Volkswirtschaft und der Post-post-Kultur-Kultur des krisengebeutelten Gemeinwesens! Als könnte ein Theater – ein Theater als solches – noch zum Innehalten rufen, zur Auseinandersetzung mit den Verhältnissen, zum Vor- und Nachgedanken über eine völlig irrelaufende Welt! Als hätte Theater dies jemals gekonnt! (Gut, es gab Zeiten ...)

In dieser Täuschung, diesem Doppelspiel des „Doch(!) und Niemals(!)“ wiegen wir uns. Wir, die zumeist sich viel zu ernst nehmenden Theatermacher*innen.

Als könnten wir dem*der bewusst/unbewusst nihilistisch gestimmten Zuseher*in noch eine Angst oder ein Mitleid herauskitzeln, um die kathartische Reinigung seiner*ihrer Affekte zu befördern. Lachhaft. Enden-wollend. Wie alles. Eleos und Phobos – Mitleid und Angst. In diesen späten Zeiten werden diese längst von anderen bewirtschaftet: den organisierten Repräsentant*innen, den brüllenden Apparaten. Sie wissen längst: Wer Angst und Mitleid zu bedienen weiß, bestimmt die Richtung und Geschwindigkeit des zivilisatorischen Prozesses, versetzt die Massen in Ausnahmezustände, teilt, herrscht, be- und enthauptet. Die Angst und ihre kleine Schwester, die Panik, formen Hetz-Massen, schaffen allzu einfache Feindbilder, erleichtern Spaltung, ermöglichen Krieg. Muss man es noch einmal wiederholen? Die größte Gefahr für die derart Mächtigen ruht in der Möglichkeit, dass der Mensch furchtlos wird, angstfrei.

Diese Vorstellung, diese Phantasieleistung ist der Kern des Poetischen und von daher fließt uns Kraft und Ruhe zugleich. Dieser Quelle sich anzunähern, diese zu umspielen ist die Aufgabe des Theaters, zumal die eines kleinen Kammer-Theaters.

Ein Spielplan muss her, eine Kalkulation, ein Budget, eine Besetzung, Dispositionen, Konzepte. Zahlen werden nachgefragt. Planungen werden gedreht und gewendet und als plausibel oder auch als völlig verrückt erachtet. Aufgaben und Zutrauen werden verteilt, doch bleiben stets die ewigen Ungewissheiten.  Und einer Planung – das weiß jeder Stratege – ist stets zu misstrauen. Und den Zahlen ...? Mein Gott! Denen immer! Auch wenn und vor allem wenn sie sich wieder in die richtige Richtung fortschreiben und summieren.

Neben vielen altbewährten und erfolgreichen auf den Nebenschienen der Musik- und Theaterkunst sind drei neue Vorgänge geplant: Und alle drei tanzen um den heißen Attraktionskern: Krieg. Dem großen und dunklen Hintergrunds-Rauscher der Menschheitsgeschichte. Dem unseligen Vater aller Dinge. Dem Zerstörer und Vernichter. Gibt es da vielleicht einen zeitgenössisch bezogenen Anlass?

Krieg also: Der erste Vorgang widmet sich seiner Herstellung aus dem Geist des Kapitals, seiner Vermehrung und seiner kompetenten Durchführung. Der zweite seiner Wirkung in den zerrütteten Seelen aller Beteiligten, seiner Verarbeitung und Bändigung. Und der Dritte seiner diplomatischen und staatlichen Verwaltung und der Peinlichkeit, mit seinen Altlasten und Gefangenen entsprechend würdig zu verfahren, vor allem dann, wenn sie von königlichem Rang sind.

Ernste Angelegenheit, keine Komödie. Es wird Tote geben. Die gibt’s ja immer. Genauso wie das Vergessen, das Verdrängen, aber auch das Vergeben. Worauf laufen wir also alle zu? Auf die Theatersaison 23/24. Sind wir bereit? Es ist ja bloß Theater.

Gernot Plass
Künstlerische Leitung