Die Überflüssigen
Frei nach „Iwanow“ von Anton Tschechow
- Vorstellungsdauer
- ca. 105 Minuten, keine Pause
Uraufführung
Premiere: Mi. 23. Feb. 2022, 20.00
Derniere: Sa. 10. Dez. 2022, 20.00
Über Die Überflüssigen
Der überflüssige, sich sinnlos gewordene Mensch ist ein immer wiederkehrender Topos der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Überfordert, verwirrt von den neuen Zeiten, verantwortungslos für sein Umfeld, erstickt er an Selbstmitleid. Eine verlogene bürgerliche Fassade, die er gleichzeitig verzweifelt aufrechterhält und reflexiv entlarvt. Nichts Richtiges im Falschen.
Sina Heiss befragt den klassischen Iwanow-Stoff von Anton Tschechow auf seine gegenwärtige Relevanz. Heute, da der Mensch in seinem massenhaften Auftreten auf seine Konsument*innenrolle reduziert und als Arbeitskraft durch grassierende Automatisierung von den Funktionseliten mehr und mehr für überflüssig erklärt wird. Damit nicht genug: Heiss überträgt die Konstruktion zusätzlich noch in die Lockdown-Zeit 2020 – ein gewagtes Unternehmen. Iwanow wird konfrontiert mit der Unsicherheit und Krisenstimmung unserer neuen Normalität.
Denn nicht nur die grassierende Krankheit hat diese Themen immer mehr in unser Bewusstsein und in den öffentlichen Diskurs gebracht, sondern auch die digitale Revolution des 21. Jahrhunderts. Wir befinden uns an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, dessen Vorboten schon längst fixe Bestandteile unseres Lebens geworden sind. Die Frage ist nur: Wieso lassen wir das alles mit uns machen? Oder stimmen ohnehin alle zu? Und haben wir überhaupt die Möglichkeit, uns dagegen zu wehren? Oder sind wir dazu bereits zu erschöpft und überfordert? Kann das Theater diese Zusammenhänge noch abbilden oder zerreißen sie im Angesicht dieser dramaturgischen Überforderung?
Sina Heiss sucht Antworten auf diese Fragen. Das tschechowsche Thema des Aus-der-Zeit-Gefallenseins wird von ihr in unserer neuen Welt variiert.
Team
- Es spielen
- Text
- Regie
- Choreografie
- Ausstattung
- Musik
- Dramaturgie
- Maske
- Regieassistenz
- Kostüm-, Requisiten- und Fundusbetreuung
- Tontechnik
- Lichttechnik
- Bühnentechnik
- Peter Hirsch
- Katja Thürriegl
- Hans Egger, Andreas Nehr, Andreas Wiesbauer
Foto-Galerie
Kritiken
Über die Produktion
Das Überflüssige und das Überfließende.
Sprechen wir von Überfluss, dann reden wir zumeist in der Welt des Symbolischen. Wir reden implizit. Von Gefäßen, Gebinden, deren Fassungsvermögen dem ihnen zugeordneten stofflichen Inhaltsvolumen gegenüber nicht mehr in der Lage ist, dieses zu halten, zu bergen (zu verbergen vielleicht), sodass, weil nach oben offen (dies ist entscheidend), es über ihre Ränder tritt. Ein Austreten des Zu-Vielen, des Nichtfassbaren. Ein Überschuss an Guten wie auch an Schlechten, an Bösen, an Nicht-willkommenen, an Heimatlosen. Ein Überfluss des Reichlichen, des Überreichlichen, des Reichen. Oder des Nutzlosen, Unbrauchbaren oder Gescheiterten? Übervoll, übergefüllt, übersatt und übersättigt.
Der Mensch ist, hören wir den Entwicklungspsycholog*innen zu, ebenso ein solches nach oben offenes Gefäß. Er fasst, nimmt auf, wächst, lernt. Die Plastizität unseres Gehirns gestatte uns ein ewiges „Nach oben“!
Der Begriff des „überflüssigen Menschen“ jedoch löst andere Assoziationen aus. Hier wird der Mensch verdinglicht, zum Inhalt reduziert, zum Mittel. Unverwertbar, wertlos. In den großen Wirtschaftszusammenhängen unbrauchbar geworden. Die kritische Theorie hat dies in vielstimmigen Fugen durchgespielt und der Klang dieser Töne hängt immer noch, leiser geworden zwar, in unseren Diskursräumen.
Überflüssige Menschen, überflüssige Datenpunkte, überflüssige Anwendungen. Überflüssige Behandlungen, überflüssiges Fett, überflüssiger Stoffwechsel, überflüssige Operationen, Medikamente, überflüssiger Geschlechts-, Urlaubs- und Kapitalverkehr, überflüssiger Welt-, National- und Regionalhandel, überflüssiger Konsum usw. Hier treten wir an die Sphäre des Schädlichen heran. Hieran knüpfen sich die ökologischen Sorgen ebenso wie die religiösen. Hier greift die Assoziation zur Massengesellschaft und zur Sinnentleerung. Leer, weil zu viel hineingefüllt. Sinnleer, weil übervoll. Der Überfluss wird zum Abfluss. Wir rinnen aus.
Und genau an diesem Punkt verbindet sich der Faden unseres Krisen-Unbehagens mit dem spätfeudalen Dekadenzgefühl, dessen sich die Figuren Tschechows im Allgemeinen, im Speziellen aber sein Nikolaj Aleksejevitsch Iwanow (wir nennen ihn heute Nicki) so überaus schmerzhaft bewusst sind. Sie sind sich selbst überflüssig geworden. Sich selbst sinnlos. Kennt man das? Die nächste App, die nächste Startup-Idee, der nächste Song, die nächste Serie, der/die nächste Partner*in. Dort drüben übrigens gibt’s Gutscheine … und, und, und …
Was soll denn das alles noch? Was wollen wir denn eigentlich? Wir leben – aber leben wir in einem erfüllenden Sinnzusammenhang? Empfinden wir die vielzitierte „vertikale Spannung“ in unserem Dasein (hinauf, hinauf, „Per aspera …“)? Oder hat sich da etwas ausgedünnt, verwässert, weggeschlichen, ist da etwas abgeflossen? Ohne dass wir es in den manischen Konsumphasen unseres In-der-Weltseins begriffen hätten? Gefüllt oder erfüllt? Objekt oder Subjekt. Sein oder Nichtsein. Sich selbst und anderen ein Mittel oder ein Zweck?
Und dann kam noch das Jahr 2020. Die große Bedrohung, die große Stasis, das große Innehalten. Das erzwungene Abstandhalten von den ohnehin zumeist „überflüssigen“ Unternehmungen: Urlaub, Theater, Konzerte, Restaurants, Sonntagsausflüge, Flugverkehr, Welthandel. Man fand sich wieder (und tut dies mitunter auch heute noch) in der oktroyierten Nabelschau, in der Reflexion über das sinnhafte Leben. Zurückgeworfen auf sich selbst. Der kleine Reset innerhalb des großen. Die Frage nach dem „Brauchen wir das noch?“ drängte sich auf. Jene aber nach dem „Werden wir noch gebraucht?“ liegt gleich um die Ecke. Was war unsere Leistung nochmal? Unser Beitrag? Waren wir nur eine Stoffwechsel-Stelle? Eine Batterie in der Maschinenmatrix? Eine Kohlenstoffdioxid produzierende Nutzlosigkeit? Sollten wir das nicht endlich alles runterfahren, stoppen? Aufhören? Das unterbrechen, das abbrechen? Willkommen im Kopf von Iwanow! Dieses Gefäß hat genug Platz für derlei Reflexionen. Auch wenn sie ihm überall aus den undichten Stellen heraustreten.
Sina Heiss ist eine hochintelligente, berechnende Brecherin. Mithilfe ihres dramaturgischen Teststäbchens fühlt sie in alle Risse und Spalten der Figuren, aber auch des dramatischen Vorgangs und verstärkt und unterstreicht die Malaise. Unter Zuhilfenahme raffinierter Verfremdungstechniken bricht sie den fragilen Kammerton der Aufführung und schafft einen gefährlichen Überhang an Nachdenkmöglichkeit und somit den wohl reflektiertesten Abend seit langem am TAG. Dies ist nicht leicht. Und auch nicht leicht zu nehmen. Gerade in unser aller Situation, deren Folgen wir vor Augen, aber auch vor Mund und Nase haben.
Mehr bleibt nicht zu sagen. Außer: Dass wir Sie, liebes Publikum, wohlgesinnt dazu einladen, diesen Bruchlinien entlang nachzudenken und vielleicht auch, ja, nachzutrauern …